Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche im Rheinland: Wuppertaler Wissenschaftler*innen präsentieren Ergebnisse
Die Wissenschaftler*innen um Prof. Dr. Fabian Kessl, Professor für Sozialpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal, haben im Rahmen ihrer rund einjährigen Forschungsarbeit die Geschichte der Gewalt im Martinstift sowie die Geschichte ihres Verschweigens aufgearbeitet.
Der Hintergrund
Im evangelischen Schülerheim Martinstift im niederrheinischen Moers wohnten in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre etwa 70 Jungen im Alter von 10 bis 20 Jahren. Sie besuchten das nahe gelegene Gymnasium Adolfinum und sollten im Martinstift – fernab des Elternhauses – ein „von christlicher Hausordnung geregeltes Gemeinschaftsleben“ führen. Erzieher*innen standen jedoch nur wenige zur Verfügung, die Mehrheit der Mitarbeiter*innen im Martinstift war ohne eine entsprechende Qualifizierung. Manche setzten sich bei den Jugendlichen mit Gewalt durch. Leiter des Schülerheims war seit 1952 der studierte Pharmazeut und Gymnasiallehrer Johannes Keubler. „Das von ihm errichtete Gewaltregime aus brutalen körperlichen Strafen und sexuellem Missbrauch konnte er fast drei Jahre lang aufrechterhalten. In einem Prozess am Landgericht Kleve wurde er im Mai 1956 wegen ‚Misshandlungen und sittlichen Verfehlungen‘ an zahlreichen Schülern für acht Jahre Zuchthaus verurteilt“, heißt es in der Projektbeschreibung.
Aufarbeitung und die Frage: Wie geht man heute mit den Geschehnissen um?
Das Forschungsprojekt zielte auf die Aufarbeitungsgeschichte der gewaltförmigen Konstellation im Martinstift ab. „Wir haben die Entwicklungslinie des kirchlichen Umgangs seit den 1950er-Jahren bis in die jüngste Vergangenheit nachgezeichnet und gefragt, wie die heutigen Nachfolgeorganisationen mit der institutionellen Verantwortung für die Geschehnisse umgehen“, erklärt Projektleiter Prof. Dr. Kessl. Ein Ergebnis war die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Bedingungen der damaligen Gewaltkonstellation und jüngsten Konstellationen im Sozial- und Bildungsbereich: Im Martinstift fehlten nicht nur pädagogische ausgebildete Fachkräfte, sondern auch eine gültige pädagogische Konzeption und eine angemessen Aufsicht. Ähnliches zeigte sich auch in Fällen, wie dem Gewaltregime in der Graf-Recke-Stiftung vor knapp 20 Jahren.
Die Wissenschaftler*innen gingen außerdem der Frage nach, wie die Akteur*innen mit der Gewalt im Martinstift nach ihrem Bekanntwerden umgingen. Im Zentrum standen Fragen wie: Wurden die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern informiert? Welche Maßnahmen wurden eingeleitet, um einen ähnlichen Fall zu vermeiden? In welcher Art und Weise ist die Erinnerung an die damalige Gewaltkonstellation und an die damaligen Bewohner*innen gesichert?
Antworten auf all diese Fragen liefert der nun veröffentliche Projektbericht. Er ist nachzulesen unter https://elpub.bib.uni-wuppertal.de
Bei der Untersuchung handelt es sich nach Aussage der evangelischen Landeskirche um die erste regionale wissenschaftliche Untersuchung von Gewalt und sexualisierter Gewalt im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland. Ermöglicht wurde die Studie durch die Initiative ehemaliger Schüler des Martinstift. Sie waren wesentlich an der Aufarbeitung der Geschehnisse beteiligt.
Darstellung des Projekts auf der Seite der Arbeitsgruppe: https://www.erziehungswissenschaft.uni-wuppertal.de/de/professuren/sozialpaedagogik/sozialpaedagogik/sozialpolitische-grundlagen/projekte/aufarbeitung-der-gewaltfoermigen-konstellation-im-martinstift-moers/
Link zur Pressemeldung der BUW: https://www.uni-wuppertal.de/de/news/detail/sexualisierte-gewalt-in-der-evangelischen-kirche-im-rheinland-wuppertaler-wissenschaftlerinnen-praesentieren-ergebnisse/